Il Sogno - Der Traum

 

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Als sie erwacht an diesem warmen Sommermorgen und in den sonnendurchfluteten Raum schaut, überkommt sie ein ebenso warmes Gefühl, ganz tief aus ihrem Innern. Im gleichen Moment erinnert sie sich, dass sie wieder von Messina geträumt hat, von Natale und seiner so liebenswerten Familie.

Mein Gott, wie lange ist das schon her? Sie rechnet kurz, es sind nun genau 50 Jahre vergangen, seit sie als junges, 16 jähriges Mädchen, Schutz bei dieser Familie gefunden hatte, Schutz und Heimat für ein paar Wochen.

Julia war damals, noch 15 jährig, von zu Hause ausgerissen, weil die Familienverhältnisse sie dazu gebracht haben

Ihre lange Reise führte sie nach Messina auf Sizilien, eine Reise mit der Bahn, an die 2.000 km von zu Hause entfernt. Sie war 15, hatte kaum Geld dabei. Nachdem sie die Fahrkarte bezahlt hatte, blieb ihr nicht mehr viel, nur noch 150 DM in der damaligen Währung. Aber sie machte sich keine Gedanken darüber, sie wollte im Ausland arbeiten und ihren Eltern beweisen, dass sie mehr kann, als diese von ihr dachten. Sie verließ ihr Elternhaus in dem festen Glauben, die Eltern seien froh, wenn sie nicht mehr da ist.

Julia wusste ja nicht, dass zur damaligen Zeit ein junges Mädchen keine Chance hatte, auf  Sizilien einer Arbeit nachzugehen, ganz ohne familiären Hinterhalt. Mit 15 ist man noch blauäugig, damals war man das jedenfalls.

Nun träumt sie schon ein paar Nächte immer wieder diesen Traum, von Natale, in den sie sich verliebt hatte, von seinen Eltern und Geschwistern. Jetzt weiß sie auch, warum sie nach so langer Zeit so intensiv daran denkt - es sind 50 Jahre vergangen, ein halbes Jahrhundert. Intuitiv scheint ihr Herz diese Möglichkeit gefunden zu haben, um sie endlich auf den Weg zu bringen.

Julia hat schon viele Jahre vor, diese Familie noch einmal zu besuchen, ihnen zu danken für ihre Fürsorge und Liebe, die sie ihr entgegen gebracht haben. Irgendwie war aber nie der richtige Zeitpunkt, sie hat es immer wieder verschoben. Auch ihr verstorbener Mann wusste von dieser Geschichte, er wäre sogar mitgereist, sie hat es nie wahr gemacht.

Diese Träume aber bringen ihr die Gefühle von damals wieder sehr nah und das Verlangen in ihr erwacht erneut, nach Messina zu fahren, diese Menschen wieder zu sehen.

Ob sie noch alle leben? Nein, das kann nicht sein. Die Eltern von Natale waren damals in den Fünfzigern, sie müssten also über 100 sein, nein, das ist unmöglich. Aber die Kinder und die beiden Enkel von ihnen, vielleicht würde sie die noch antreffen, wenigstens einer wird doch das kleine Haus übernommen haben und sich noch an sie erinnern.

Wie oft hat sie schon darüber nachgedacht, sogar versucht, sie im Internet ausfindig zu machen. Die Adresse hat sie seit über 50 Jahren komplett im Kopf, hat auch schon auf Google Maps nachgesehen, aber es scheint dieses Viertel nicht mehr so zu geben, wie es damals war. Es war ein Viertel für arme Leute, mit vielen kleinen Straßen und kleinen Häusern.

Camaro Inferiore heißt das Viertel, das kann sie auch noch finden im Internet, aber nicht die Straße. Via Studoriano 14 war die Adresse...

Julia liegt noch immer in ihrem Bett, nichts treibt sie, sie lebt alleine, muss sich um niemanden kümmern. Die Gardinen wehen leicht im warmen Wind des jungen Morgens. Sie hat über Nacht das Fenster offen gelassen, da es zur Zeit Hochsommer ist und ihr Schlafzimmer ihr zu warm zum Schlafen erschien.

So schaut sie den Gardinen zu, wie sie hin und her wehen, ein beruhigendes Schauspiel - und dazu singen die Vögel im Garten, dass es eine wahre Pracht ist. So träumt sie weiter von Messina und der Zeit bei den Ortando´s.

Natale lernte sie im Zug kennen, er fuhr für das Weihnachtsfest nach Hause, wollte den Winter auf Sizilien bei seiner Familie verbringen und später wieder zurück nach Deutschland fahren, wo er bei seiner Schwester lebte und arbeitete.

Er sprach sie im Zugabteil an und fragte, wohin sie wolle. Sie sagte ihm, weil ihr nichts besseres einfiel, sie würde Urlaub auf Sizilien machen. Ob sie schon ein Hotel hätte, wollte er wissen. "Nein, ich muss mir noch eines suchen!"

"Dann komm doch erst mal mit zu meinen Eltern, sie werden sich freuen." Das konnte Julia zwar nicht verstehen - wieso sollten seine Eltern sich freuen, wenn sie mitkäme? - aber er ließ nicht mehr locker, sodass sie schließlich tatsächlich mit Natale nach Hause fuhr - und sechs Wochen bei seiner Familie blieb.

In diese sechs Wochen fiel ihr 16. Geburtstag (natürlich wusste die Familie nichts davon, denn ihnen sagte sie, sie sei schon 18), Weihnachten und Silvester.

Die Familie Ortando lebte in einem kleinen Haus, mit einem schönen Garten, in dem Zitronen- und Orangenbäume standen, natürlich auch ein knorriger Olivenbaum. Im Nachbarhaus, welches durch den Hinterhof mit ihrem Haus verbunden war, lebte der Bruder Ortando mit seiner Familie. Seine Tochter Cettina war auch 15 und konnte, wie ihr Vater, einigermaßen gut deutsch reden, weil die Familie einige Jahre in Deutschland gelebt hatte.

Julia wurde sehr freundlich aufgenommen von Natale's Familie, sie boten ihr sogar an, dass sie den Urlaub über bei ihnen bleiben kann. Julia war sehr erstaunt, aber es war ihr recht, denn mit ihrem bisschen Geld hätte sie nur ein paar Tage überleben können.

Natürlich gab es kein Fremdenzimmer, aber die Familie räumte das Sofa in der Küche, auf dem zuvor die beiden Enkelkinder geschlafen haben, für sie. Für die beiden Enkelkinder wurden im Wohnzimmer jeden Abend kurzerhand vier Stühle zusammen gestellt, auf die eine Matratze gelegt wurde, somit hatten sie ihr Bett zum Schlafen. Es war eine Selbstverständlichkeit, genau so, wie Julia im kompletten Familienleben mit eingeschlossen wurde.

Es herrschte eine große Warmherzigkeit bei den Ortando's, sehr liebevoll wurde mit den Enkelkindern umgegangen, auch mit den erwachsenen Kindern. Da waren Natale, seine Brüder Giuseppe und Domenico und die jüngere Schwester Franca. Eine weitere Tochter lebte mit ihrem Mann in Deutschland, ihre beiden Kinder, also die Enkelkinder, wurden von den Großeltern erzogen, damit sie in Messina die Schule besuchen konnten.

Julia wurde eine von ihnen, so fühlte sie sich jedenfalls, es wurde ihr Liebe geschenkt und Aufmerksamkeit, es schien selbstverständlich zu sein, dass sie da war.

Ganz schnell machte sie aber auch die Erfahrung, dass ein junges Mädchen nicht alleine auf Arbeitssuche gehen konnte, nicht einmal alleine in die Stadt durfte sie. Die Gefahren sind zu groß, außerdem gehört sich das nicht, wurde ihr gesagt. Sobald sie in die Stadt wollte, mussten Natale, oder einer seiner Brüder mitgehen. Also gab sie die Arbeitssuche auf und ließ den Dingen einfach ihren Lauf. Sie machte sich nützlich, wo sie nur konnte und wurde wie ein weiteres Kind von Mama und Papa Ortando behandelt.

In Natale verliebte sie sich erst etwas später, denn er war nicht wirklich ihr Typ. Er war einfach immer da, kümmerte sich um sie und mit ihm konnte sie auch in ihrer Sprache reden. So blieb es nicht aus, eines Tages wurden sie ein Liebespaar, den Eltern schien es recht zu sein.

Irgendwann schöpfte der Vater Verdacht, weil Julia keine Anzeichen einer Heimreise machte, denn ein Urlaub muss ja schließlich einmal zu Ende gehen.  So fragte Papa Ortando sie, wann sie denn nach Hause fahren würde.

Es blieb ihr nichts anderes übrig, als die Wahrheit einzugestehen, zu erzählen, dass sie von zu Hause ausgerissen sei und übrigens auch erst 16 Jahre alt. Daraufhin verlangte Papa Ortando von ihr, dass sie ihre Eltern anrief, damit diese nach fünf  Wochen das erste Lebenszeichen von ihrer Tochter erhielten.

Danach ging alles recht schnell. Nach einer Woche schon reiste sie nach Hause, nachdem die Eltern ihr Geld geschickt haben, um die Fahrkarte für die Zugfahrt kaufen zu können. Natale reiste einfach mit und  überraschte sie damit.

"Ich liebe dich und möchte bei dir sein", meinte er zu ihr - und wollte mitkommen nach Deutschland, zu ihrer Familie. Er dachte wohl, er würde von ihren Eltern genauso gerne und liebevoll aufgenommen, wie Julia bei den Ortando's - aber damit lag er ganz falsch.

Als ihre Eltern sie an der Grenze Österreich/Deutschland abholten, durfte Natale natürlich nicht mit. Ihr Vater war total entsetzt, als er ihn sah und erfuhr, dass er der Freund und Liebhaber seiner Tochter ist. Er gab ihm etwas Geld, damit er sich eine Fahrkarte zu seiner Schwester kaufen konnte, die in Deutschland lebte.

Julia war zutiefst entsetzt, hatten die Ortando's doch alles für sie getan - und nun schickte ihr Vater Natale einfach weg, als sei er ein Nichts.

Diese Wärme seiner Familie empfand sie nun umso mehr, sie stand im Gegensatz zu der Kälte, die hier herrschte, mit der Natale abserviert wurde.

Was sollten sie tun, sie mussten sich fügen, versprachen sich aber die ewige Liebe - und trennten sich schweren Herzens.

Danach blieben nur noch viele geschriebene Briefe, die mit der Zeit immer weniger wurden und irgendwann war auch das vorbei. Aus der ewigen Liebe wurde nichts.

Julia brach es jedoch nicht das Herz, Natale war wohl doch nicht ihre große Liebe, sie war zu jung, war fremd damals und froh um seine Fürsorge. Auch ihm schien es nicht anders zu gehen.

In den Jahren danach wurde Julia langsam bewusst, wie dankbar sie den Ortando's sein musste und sie wurde sich immer sicherer, dass diese sie vor einem schlimmen Schicksal bewahrt haben.

Ein junges Mädchen damals auf Sizilien, ohne Familie, ohne Geld, wäre verloren gewesen, nicht auszumalen, was ihr hätte passieren können. Gut wäre das bestimmt nicht ausgegangen.

So wuchs im Laufe der Jahre die Dankbarkeit in ihr immer mehr, wurde immer tiefer und sie nahm sich vor, die Familie eines Tages noch einmal zu besuchen, was ihr bis heute jedoch nicht gelungen ist.

Einmal, vor vielen Jahren, schrieb sie ihnen einen Brief und bedankte sich bei ihnen, das war ihr ein Herzensbedürfnis. Sie schrieb keinen Absender auf diesen Brief, unterzeichnete nur mit Julia. So war sie sehr überrascht, als nach ein paar Wochen ein Brief zurück kam, versehen mit der Adresse, die sie damals hatte. Also haben Mama und Papa Ortando all die Jahre meine Adresse aufbewahrt, freute sie sich und sie spürte noch einmal die Wärme dieser Familie.

Sie luden sie sogar ein, sie doch noch einmal zu besuchen, sie würden sich sehr freuen. Julia beantwortete diesen Brief nicht mehr, nahm somit auch die Einladung nicht an.

Warum nur? Sie weiß es nicht!

Nun ist es zu spät, Mama und Papa Ortando wird es nicht mehr geben. Eine Trauer kommt in Julia hoch und gleichzeitig schämt sie sich wieder einmal, dass sie so undankbar war und ist.

Was soll sie abhalten, diese Reise jetzt anzutreten? Ein kurzer Trip von ein paar Tagen, ein Hotel und dann mit einem Taxi zu der ihr so wohl bekannten Adresse - das ist doch ohne Weiteres möglich. .

"Heute bin ich 66 und kein junges Ding mehr, außerdem sind die Zeiten ganz andere, auch auf Sizilien. Wann soll ich es angehen, wenn nicht jetzt?" - spricht sie laut zu sich selbst.

Sie denkt den ganzen Tag darüber nach und ihr Entschluss festigt sich immer mehr, sie muss es jetzt tun!

Noch einmal will sie im Internet nach der Adresse in Messina suchen, obwohl sie es schon mehrere Male erfolglos versucht hat. Heute will sie so lange dran bleiben, bis sie Erfolg hat, ein intensiver Tatendrang überkommt sie.

So gibt sie die ihr wohlbekannte Adresse wieder ein, aber der Laptop sagt ihr, dass es diese Straße nicht gibt.

"Verdammt noch einmal, das kann doch nicht sein" ... und sie sucht weiter und weiter. Dann kommt ihr der Gedanke, das Viertel Camaro Inferiore einzugeben und dann dort jede Straße durchzugehen. Es muss doch zu finden sein!

So macht sie es dann auch und wird ganz schnell fündig. Ein winzig kleiner Fehler hat die Suche bisher vergebens gemacht, denn sie stellt fest, dass die Straße Via Studoriari heißt und nicht Via Studioriano! Dieses ri - diese zwei winzigen Buchstaben ließen sie immer vergebens suchen.

Nun schnell die Straßenansicht eingeschaltet... und... ja und da ist die ihr immer noch so vertraute Straße tatsächlich. Es ist so, als würde sie gerade jetzt - und doch auch vor über 50 Jahren - diese Straße entlang gehen. Sie findet sogar das Haus mit der Nr. 14, kann es sich von der Vorderseite aus ansehen und es kommt ihr sogleich wieder vertraut vor.

"Sechs Wochen habe ich in diesem Haus, in dieser Straße gelebt", sagt sie zu sich selbst und ihr wird ganz warm ums Herz. Viele Bilder tauchen plötzlich vor ihr auf.

Da ist auch noch die Mauer gegenüber des Hauses, auf dieser Mauer saßen sie oft und schwatzten und freuten sich ihres Lebens. Die Italiener leben einfach leichter, sie sind fröhlicher und viel herzlicher - das hat sie damals erfahren dürfen.

Sie schaut noch eine ganze Weile und kann nun nicht mehr warten, wieder dorthin zu kommen.  

Am nächsten Tag schon geht sie in ein Reisebüro und macht die Reise klar, es soll  nun nichts mehr dazwischen kommen. Schon in 10 Tagen ist es soweit.

Diese 10 Tage vergehen wie im Flug, Julia wird immer aufgeregter, je näher der Abreisetag kommt... 50 Jahre sind auf einmal wie weg gewischt, sie hat all die alten Bilder wieder vor Augen.

Nun steht sie vor dem Bahnhof in Messina und kommt sich erst einmal recht hilflos vor. Ein Gewimmel von Menschen, ein Sprachengewirr und typisch italienische Lautstärke auf der Straße irritieren sie. Italienisch versteht sie so gut wie nicht mehr, obwohl sie sich damals doch einigermaßen verständigen konnte. Alles klingt fremd für sie, auch erkennt sie den Bahnhofsvorplatz nicht mehr. Zudem ist es verdammt heiß, sie hätte lieber im Spätherbst fahren sollen, aber letztendlich ging es ihr nun nicht mehr schnell genug, hierher zu kommen.

Jetzt muss ich zuerst ein Taxi suchen, um in mein Hotel zu fahren, denkt sie sich und winkt eines herbei, welches gerade am Bahnhof vorfährt. Der Fahrer versteht leider kein Englisch, aber den Namen des Hotels versteht er, was er ihr mit einer horrenden Lautstärke, einem breiten Grinsen und vielen Gesten zu verstehen gibt. Wenigstens klappt das, denkt sie sich und freut sich auf die Entspannung im Hotel.

Unterwegs viel Gehupe auf den Straßen und auch viele fröhliche Menschen, die alle ständig irgendwie mit ihren Händen in der Luft fuchteln. Daran kann sie sich auch noch gut erinnern, die Gestik bei den Italienern ist sehr wichtig und nimmt einen Großteil ihrer Kommunikation an Anspruch. Das hat ihr damals schon gefallen, auch heute noch, alles wirkt so lebendig. Sie muss lächeln.

Aber alles erscheint ihr doch fremd, so als sei sie nie diese sechs Wochen hier gewesen. Nun, in 50 Jahren verändert sich eben vieles, man vergisst auch etliches, besonders die weniger wichtigen Dinge.

Recht schnell sind sie am Hotel Emme, dort wird sie die nächsten drei Nächte verbringen, bevor sie wieder nach Hause fliegt. Das Hotel liegt recht zentral, sodass sie auch die Stadt etwas erkunden kann, in der Hoffnung, doch die ein oder andere Ecke wieder zu erkennen.

Nachdem sie den Taxifahrer bezahlt hat und der sich überschwänglich und freudig für das Trinkgeld bedankt hat, geht sie ins Hotel und bezieht auch gleich ihr Zimmer. Nun ist erst einmal Ausruhen angesagt, den kleinen Koffer auspacken und frisch machen. Danach geht sie zum Abendessen in das Hotelrestaurant, um dann, nach zwei Gläsern Rotwein, die Nacht gut zu verbringen.

Am nächsten Morgen wird Julia wach und ist sofort aufgeregt, als ihr bewusst wird, wo sie ist. Endlich hat sie es wahr gemacht!

Sie geht als Erstes hinaus auf den kleinen Balkon, um die warme Luft einzuatmen, die allerdings auch viele Abgase enthält, sie ziehen von der Straße, die recht belebt ist, herauf.

Es ist kurz nach 7 Uhr und schon sehr warm, die Sonne steht am knallblauen Himmel und gibt alles, was sie kann.

Heute will sie in das Viertel Camaro Inferiore fahren, in die Via Studoriari 14  - nach 50 Jahren!

Im Vorfeld hatte sie überlegt, ob sie besser vormittags, oder besser nachmittags dort hin fährt. Wer weiß, wann jemand zu Hause ist, wenn überhaupt noch jemand von den Ortando's dort lebt. Nun aber ist ihr alles egal, sie will nur noch los.

Also schnell duschen, frühstücken und ein Taxi bestellen lassen. Sie bittet um einem Fahrer, der Englisch spricht, damit er ihr etwas behilflich sein kann. Das klappt dann auch, das Taxi wird von einem jungen Mann gefahren, der vorzüglich Englisch spricht, viel besser als sie selbst. Ihm erklärt sie, wohin sie will und auch warum.

Der junge Mann stellt sich als Rosario vor und möchte gerne mehr von ihrer Geschichte wissen. In ganz groben Zügen erzählt sie das Wichtigste und er ist sofort hellauf begeistert. Er freut sich tatsächlich sehr, dass Julia damals von der Familie Ortando so herzlich aufgenommen wurde und dass sie noch einmal an diesen Ort zurück möchte. "Das kann ich sehr gut verstehen Signora, das ist eine Herzensangelegenheit" - sagt er in seinem hervorragenden Englisch. "Ich glaube, ich bin genauso gespannt wie sie auch, ob und wen sie dort noch antreffen!"

Nach kurzer Fahrt sagt er: "so, wir sind bereits in Camaro Inferiore, ich werde jetzt etwas langsamer fahren, vielleicht kennen sie sich ja noch etwas aus hier." - und er freut sich sichtlich, als er sie ansieht.

Julia hat schweißnasse Hände, vor lauter Aufregung. Wie oft hat sie sich das vorgestellt, hatte die Bilder vor ihrem geistigen Auge und nun...

Die Gegend erscheint ihr recht ärmlich, war sie damals schon, aber es ist mittlerweile doch wohl noch mehr an Bausubstanz verkommen. Einige Häuser, die zusammen gefallen sind, oder auch gerade abgerissen werden - aber auch wieder Neubauten.

Plötzlich biegt der Taxifahrer in eine kleine Straße ein, die ihr sofort bekannt vorkommt - das Straßenschild zeigt ihr Via Rosado an - diese kleine Straße kennt sie. Da sind sie früher immer lang gelaufen, wenn sie mit dem Bus aus der Stadt kamen und an der Hauptstraße aussteigen mussten. Sie erinnert sich an einen kleinen Lebensmittelladen, der dort war, Alimentari stand da dran und sie erinnert sich, dass sie lachen musste, als sie das damals zum ersten Mal las, weil es sie an Alimente erinnerte.

Julia wird es ganz warm ums Herz und eben dieses fängt an, wie wild zu pochen - und ihre Hände sind noch immer schweißnass vor Aufregung.

"Wissen sie, wo wir sind?" - fragt Rosario. "Oh ja, ich fühle mich gerade um 50 Jahre zurück versetzt."

Sie biegen in die ebenso kleine Via Danelona... und Julia weiß, dass sie nun gleich die Via Studoriari erreichen werden. Sie möchte Rosario bitten anzuhalten, eine kleine Pause einzulegen, nur ein paar Sekunden - aber warum, wovor hat sie Angst, vielleicht vor ihrer eigenen Courage? Da zieht Rosario das Steuer auch schon nach links und sagt: "Signora wir sind da, wir sind in der Via Studoriari! Möchten sie aussteigen und den Rest des Weges zu Fuß gehen? Bis zur Nummer 14 ist es nicht weit, aber das wissen sie ja selbst." Er lacht sie an und man sieht ihm seine Freude ins Gesicht geschrieben.

"Ja, warum nicht? Ich habe nicht darüber nachgedacht, aber sie haben recht, ich werde den Rest zu Fuß gehen und all die Eindrücke in mich aufnehmen."

"Ich bin da und werde sofort kommen, wenn sie mir zuwinken Signora."

Julias Temperaturzustand wechselt im Sekundentakt, so kommt es ihr vor, einmal heiß, einmal kalt und ein leichtes Zittern überkommt sie. Sie steigt langsam aus, rückt ihre Kleidung zurecht, das macht sie übrigens ganz automatisch, denn Gedanken für ihre Kleidung hat sie im Moment nicht, hängt sich ihren kleinen Rucksack um, den sie immer als Handtasche benutzt - und geht nach über 50 Jahren ihre ersten Schritte über die Via Studoriari - in Richtung Haus Nummer 14.

Ein unbeschreibliches Gefühl überkommt Julia, sie wird auf einmal ganz ruhig, die Temperaturschwankungen verschwinden, genauso das leichte Zittern. Auch die Hände hören auf zu schwitzen, sie ist wieder 16 Jahre alt und geht auf geliebten Spuren.

Alles kommt ihr so vertraut vor, es hat sich nicht sehr viel verändert, wie sie feststellt. Die kleinen Häuser sind zum Teil doch mehr oder weniger reparaturbedürftig, sehen teilweise auch etwas verwahrlost aus, aber all das sieht Julia nicht wirklich. Sie wird übermannt von zahllosen Gefühlen, es bricht so vieles in ihr auf, was doch tief verschüttet war, aber immer noch da ist. Sie fühlt sich tatsächlich um all die vielen Jahre zurück versetzt, sie ist die 16 jährige Julia, die hier immer Giulia genannt wurde - und doch hat sie heute graue Haare, und den 66. Geburtstag schon hinter sich.

So geht sie langsam die Via entlang, vorbei an den ersten Häusern und hat auch schon die Nr. 10, dann die Nr. 12 erreicht... steht also kurz vor dem Haus mit der Nr. 14, dem Haus von Mama und Papa Ortando.

Da überkommt sie ein unheimlich tiefes Gefühl, ein Gefühl von Liebe für diese beiden Menschen, die so gut zu ihr waren, die sie wie ein eigenes Kind behandelt haben damals - und sie kann ihre Tränen nicht mehr zurück halten. Wie eine Befreiung laufen die salzigen Wassertröpfchen über ihre Wangen, werden immer mehr - sie schämt sich nicht, sie fühlt sich erfüllt von Liebe für diese Menschen. Es sind Tränen der Liebe!

Sie geht ganz langsam zwei Schritte weiter, als aus dem Haus Nr. 14 eine Frau kommt, eine ältere Frau, ebenfalls grauhaarig, wie sie selbst. Die Frau sieht sie an und wundert sich über diese Fremde hier in ihrer kleinen Straße, ganz abseits von jeglichem Tourismus. Julia fällt auf hier, das hat sie schon vorher bemerkt, als Kinder aus einem Haus kamen und sie anstarrten - und als Gardinen sich bewegten.

Wer ist diese Frau, die gerade das Haus von Mama und Papa Ortando verlassen hat? Diese Frau sieht Julia freundlich an und sagt etwas zu ihr, aber Julia versteht sie nicht.

"Do you speak English?" - fragt Julia sie und die Fremde antwortet mit "no". Julia sucht in ihrem Gedächtnis nach italienischen Worten und ihr fällt doch tatsächlich non capisco (ich verstehe nicht) ein. Also sagt sie: "non capisco, mi scusi!"

Wo kommen plötzlich diese italienischen Worte her? Ich verstehe nicht, Entschuldigung - hat sie eben auf Italienisch gesagt... sie wundert sich selbst. "Parlare tedesco?" (sprechen sie Deutsch?)  sprudelt aus ihr heraus und die Fremde antwortet mit: "si!"

"Sie sprechen Deutsch?" Damit hatte Julia jetzt nicht gerechnet, sie fragte nur, weil ihr diese Worte gerade einfielen.

Ich spreche bisschen Deutsch, ganz bisschen, bin e in Germania viele Jahra zurucke."

"Cettina!"... ruft Julia da, "Cettina, bist du das?"

Io Cettina, si - e tu?

Ich bin Julia aus Deutschland, Julia, die vor über 50 Jahren hier war, bei Mama und Papa Ortando, bei Natale und auch bei dir."

"Giulia, du Giulia?" - und sie spricht viel und schnell auf Italienisch, was Julia nicht versteht - und sie nimmt Julia in ihre Arme, drückt sie, hält sie von sich weg, um sie anzusehen, drückt sie wieder. Tränen treten auch in ihre Augen, beide Frauen halten sich nun in den Armen und weinen vor Freude.

Cettina möchte viel erzählen, aber mit der deutschen Sprache kommt sie nicht sehr weit. Da winkt Julia Rosario zu, der auch sofort zu Fuß kommt. Das Taxi hat er einfach auf dem kleinen Platz an der Ecke geparkt, denn die Straße ist doch recht eng. Er fungiert als Dolmetscher zwischen den beiden, indem er Julia auf Englisch mitteilt, was Cettina ihm auf Italienisch sagt - und umgekehrt.

Cettina bittet Julia und auch Rosario in ihr Haus, das angebaute Nachbarhaus des Bruders von Papa Ortando. Sie lassen sich im Wohnzimmer nieder, welches man direkt betritt, wenn man zur Haustüre hinein kommt. So war das damals schon - und dahinter ist die Küche, dann noch ein Schlafzimmer und eine Art große Abstellkammer. Es ist die gleiche Aufteilung, wie bei den Ortando's. Die Einrichtung ist natürlich nicht mehr die von damals, das ist alles fremd, aber die Räumlichkeiten, daran kann Julia sich noch gut erinnern. Mit Cettina hat sie damals viel Zeit hier verbracht, weil sie sich mit ihr einigermaßen gut auf Deutsch unterhalten konnte.

Bei frischer Zitronenlimonade wird nun viel erzählt.

Julia fragt gleich, was aus Mama und Papa Ortando geworden ist und sie erfährt, dass beide schon vor Jahren verstorben sind. Das konnte ja auch nicht anders sein. Sie erfährt auch, dass beide ihre Giulia nie wirklich vergessen haben und das sie es bedauert haben, dass sie, Julia, ihnen damals auf ihre Einladung zum Kommen nicht mehr geantwortet hat. Das hätte sie traurig gemacht, meint Cettina.

"Wer wohnt jetzt in dem Haus von Mama und Papa Ortando, einer der Söhne?"

"Nein, die sind alle weggezogen, Franca hat das Haus übernommen, erinnerst du dich an Franca?"

"Aber natürlich erinnere ich mich an sie, sie muss doch auch schon an die 60 sein."

"Sie ist schon 61" - antwortet Cettina. "Komm, wir gehen rüber zu ihr, sie wird staunen!"

Rosario kommt mit dem Übersetzen kaum nach, manchmal kommen auch einige deutsche Worte über Cettina's Lippen, die klingen so niedlich.

Auch fallen Julia immer wieder ein paar italienische Worte ein, es ist doch noch nicht alles vergessen!

Dann stehen sie auf, Cettina führt sie durch die Küche in den Garten hinter dem Haus - und da ist immer noch die Verbindung zu dem Haus der Ortando's. Hier im Hinterhof und im Garten hat sich nicht allzu viel verändert, auf jeden Fall erkennt Julia noch den großen Olivenbaum, er ist noch knorriger geworden.

Sie gehen um die niedrige Mauer herum und Julia wird es ganz warm, wieder fühlt sie sich zurück versetzt, wieder kommen liebevolle Gefühle in ihr hoch.

"Franca"... ruft Cettina - und eine hübsche Frau kommt aus der Küche in den Hinterhof, auch sie hat graue Haare.

Sie schaut Julia und Rosario an und begrüßt sie mit einem "buongiorno".

"Buongiorno" - sagt auch Julia und reicht ihr die Hand, die Franca auch sofort ergreift, aber mit ihr als Person natürlich nichts anfangen kann.

Cettina sprudelt über mit ihren Worten und auch mit ihren Gesten, als sie zu Franca spricht. Rosario braucht nicht zu übersetzen, denn schon stürmt Franca auf Julia zu, nimmt sie in die Arme und drückt sie ganz fest, begleitet von vielen italienischen Worten. Julia versteht nur immer wieder "Giulia, Giulia"...

Auch Franca treten Tränen in die Augen, Gefühle liegen bei Frauen nicht tief vergraben, ganz besonders Italiener sind Menschen, die ihre Gefühle gerne zeigen. Das hat Julia immer gefallen, denn sie ist ebenfalls ein sehr gefühlsbetonter Mensch.

Rosario steht daneben und freut sich sichtlich mit den drei Frauen, diese Szenen, dieses Wiedersehen nach dieser langen Zeit - das alles mitzuerleben ist ihm wichtiger, als sein Taxi zu bedienen. Um nichts in der Welt möchte er diesen Platz jetzt verlassen und in Gedanken malt er sich schon aus, wie er das später seinen Eltern erzählen wird.

Franca nimmt alle mit in ihr Haus und Julia ist endlich dort, wo sie so lange schon hin wollte, nur sind die wichtigsten Menschen nicht mehr da, die sie gerne noch einmal in die Arme genommen hätte.

Sie erkennt auch hier die Räumlichkeiten wieder, da hat sich ebenfalls nichts verändert, nur eben auch eine neue Einrichtung, gemütlich und sehr gepflegt.

Sie tritt in die Haustüre, um den Blick aufzunehmen, der ihr so bekannt ist, der Blick auf die Mauer, auf der sie oft saßen, der Blick auf die Orangenbäume, die unterhalb der Mauer stehen, obwohl nur noch ein paar da sind. Es wurde ein Haus gebaut, sodass der Blick nun auf eine höhere Mauer fällt.

Julia fühlt sich irgendwie angekommen, sie fühlt sich wieder jung - und doch auch in ihrem Alter, sie genießt das Hiersein aus vollem Herzen. Sie sieht und fühlt das alles anders, als damals, viel inniger, viel liebevoller, weil sie in all den Jahren die Dankbarkeit spürte, die nun ihren Platz gefunden hat.

Nach etwa einer Stunde, nach vielem Gerede, Arme streicheln, über die Wangen streicheln, wieder Tränen in den Augen haben und nach wahnsinnig intensiven Gefühlen fragt Julia, ob sie das Grab von Mama und Papa Ortando besuchen kann.

"Oh ja, das kannst du! Mama und Papa werden dich erkennen und sich sehr über deinen Besuch freuen" - antwortet Franca. "Sie haben dich nie vergessen!"

Tränen, schon wieder Tränen bei den drei Frauen - und auch in Rosario's Augen sieht Julia etwas glänzen.

Er holt sein Taxi, lädt die drei Frauen ein und sie fahren gemeinsam zum Friedhof. Alle gehen sie durch die Reihen, die aus lauter Wandgräbern bestehen, bestückt mit meist künstlichen Blumen. Bunt und fast schön sieht das aus, von der Sonne beschienen und sehr friedlich.

Julia hört, wie Franca etwas sagt, sie versteht nur die Worte Mama, Papa und Giulia. Sie sind an der Grabstelle von Mama und Papa Ortando angekommen. Kleine Bilder von den beiden lieben Menschen treffen Julia mitten ins Herz und das Weinen überkommt sie so schnell, dass sie schluchzen muss. Sie kann nicht mehr an sich halten, all die aufgestaute Dankbarkeit, die Liebe zu den beiden Menschen, die im Laufe der Jahre gewachsen ist, entlädt sich nun in einem vernehmbaren Heulen, das befreit.

Franca und Cettina nehmen sie in den Arm und trösten sie - und Rosario wischt sich die Augen.

Irgendwie hat selbst Julia das Gefühl, dass Mama und Papa Ortando sie sehen, vielleicht sogar spüren können, dass sie nun wissen, wie dankbar Julia ihnen ist. Sie müssen spüren, dass Julia sie liebt.

Als sie nach einer ganzen Weile den Friedhof wieder verlassen, weiß sie, dass sie nun in Erfüllung gebracht hat, was sie sich immer wünschte. Ein Herzensbedürfnis wurde gestillt.

 

Mama und Papa Ortando, sie wird sie auf ewig im Herzen tragen.

 
   

Benedikt, der Leuchtturmwärter

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Benedikt, der Leuchtturmwärter von Amrum, der sein kleines Reetdachhaus ganz in der Nähe des Leuchtturmes hat, war wieder einmal auf dem Weg zu seiner Schicht auf dem Leuchtfeuer. Es war noch recht früh am Abend, so ging er langsamen Schrittes durch die Dünenlandschaft, sein Blick ging weit über das Meer, bis zum Horizont. Diese herrliche Seeluft, er genoss sie immer wieder, dazu der Wind, der heute allerdings recht stürmisch war. Er zog seine Mütze etwas tiefer in die Stirn, damit sie ihm nicht davon fliegen konnte, die Hände stemmte er in die Taschen der gelben Öljacke.

Da stand er auch schon vor dem Leuchtturm, der in seiner rot-weißen Farbe weit über das Meer blickt und den Schiffern Zeichen gibt. Benedikt kramte in seiner Jackentasche nach dem Schlüssel, als er vor der Eingangstür einen großen Hund sitzen sah.

Zuerst erschrak er, aber der Hund sah ihn mit so traurigem Blick an, dass er ihm seine Hand hin hielt, im ihn daran schnüffeln zu lassen. „Na, wer bist du denn?“ fragte er den Hund. „Wie heißt du denn, woher kommst du, hast du dich verlaufen?“

Benedikt blickte sich in alle Richtungen um, ob er nicht ein Herrchen, oder Frauchen sehen konnte, zu irgendjemand musste der Hund doch gehören. Er konnte aber niemanden sehen.

„Du bist wohl ausgebüchst, was, du wirst schon bald gefunden werden“, sagte er zu dem großen Hund, „warte, ich bringe dir einen Topf mit Wasser heraus.“

Er schloss die Eingangstür zum Leuchtturm auf, ging hinein und ehe er sich umsah, war der Hund an ihm vorbei und machte es sich sogleich in seinem Arbeitsraum gemütlich. Er legte sich unter seinen Schreibtisch, so als suche er Schutz, oder wolle sagen: „hier holt mich niemand mehr weg.“

„Du bist mir aber einer, mich so zu überlisten“, sagte Benedikt. „Wenn ich nur deinen Namen wüsste.“ Er bückte sich zu dem Hund hinunter. „Du hast zwar ein Halsband an, aber kein Namensschild, keine Markierung. Weißt du was? Ich nenne dich einfach Benni, so hieß mein Hund, den ich als Kind hatte.“ Er stellte Benni einen großen Topf frisches Wasser hin und dieser machte sich gleich darüber her, also musste er großen Durst haben.

„Du hast sicher auch Hunger, Benni“, sagte Benedikt und ging an den Kühlschrank, den er immer gut gefüllt hatte, man weiß ja nie. Da lag noch ein großes Stück Fleischwurst drin, die nahm Benedikt heraus, schnitt eine dicke Scheibe von seinem Brot ab, butterte sie und schnitt alles in Stücke. Er füllte eine Schüssel mit Wurst- und Butterbrotstücken und stellte sie Benni hin, dieser hatte die Schüssel schneller leer gefressen, als Benedikt sich umdrehen konnte.

„Mann hast du einen Hunger, weiß der Geier, wann du zum letzten Mal etwas gefressen hast. Vielleicht hat man dich sogar ausgesetzt?“ Dieser Gedanke gefiel ihm gar nicht, aber es wäre nicht das erste Mal, dass er von so etwas auf Amrum gehört hätte. „Es sind wieder Sommerurlauber hier, vielleicht mag dich ja einer von ihnen nicht mehr mit nach Hause nehmen, die Menschen sind oft so schlecht.“

Da fiel ihm ein, dass er ja bei der Polizei und im Tourismusbüro Bescheid geben könnte, vielleicht würde jemand Benni suchen. Sofort rief er die Polizei an, beschrieb den Hund und sagte ihnen, dass er Benni bei sich behalten würde, bis sich jemand melden würde. Auf dem Tourismusbüro erreichte er auch noch jemanden, wohl kurz vor Feierabend, auch dort gab er Bescheid. Mehr konnte er jetzt nicht für Benni tun.

Dieser lag wieder unter dem Schreibtisch, er schlief fest. Benedikt wunderte sich sehr, war der Hund doch ganz fremd hier, aber wer weiß, wie lange er schon unterwegs ist, er war auf jeden Fall durstig, hungrig und ist hundemüde. Er ließ ihn schlafen, versuchte, ihn nicht zu stören.

Benni schlief beinahe die ganze Nacht durch, ab und zu wachte er auf, schaute, ob Benedikt noch da war und legte sich dann gleich wieder hin. Er schien zufrieden zu sein.

Als die Nacht vorbei war und die Sonne schon hinter dem Horizont hoch kroch, machte sich Benedikt fertig, um nach Hause zu gehen. „Komm Benni, ich nehme dich mit zu mir nach Hause, bis sich dein Herrchen, oder Frauchen meldet. Solange kannst du bei mir wohnen.“

Sie gingen hinaus in die Dünen, Benni folgte Benedikt, ohne dass dieser etwas zu ihm sagen musste. „Was bist du ein braver Kerl“, sagte er zu dem Hund.

Zu Hause angekommen gingen sie in das Haus, Benni folgte Benedikt auf Schritt und Tritt. Zuerst bekam er eine große Wasserschüssel, dann suchte Benedikt nach etwas Wurst und Brot, denn Hundefutter hatte er nicht zu Hause, so musste Benni damit vorlieb nehmen, was dieser auch genüsslich tat. Anschließend kam er zu Benedikt, stupste ihn mit der Nase an und leckte ihm die Hand, ließ sich dann neben ihm nieder.

„Irgendwie ist es schön, einen Hund zu haben“, dachte sich Benedikt, „warum habe ich nicht schon längst einen? Dann wäre ich nicht so alleine in dem Haus.“

Er ging ins Schlafzimmer, um sich hinzulegen, er war müde nach dieser langen Schicht. Benni folgte ihm und legte sich neben sein Bett, schlief ebenfalls wieder ein.

Das Klingeln des Telefons riss Benedikt aus dem Schlaf, er nahm den Hörer ab, von der anderen Seite meldete sich das Tourismusbüro. „Hallo Benedikt, ist der Hund noch bei dir?“

 „Ja, ist er, warum, hat sich sein Besitzer bei euch gemeldet?“

„Ja,, sein Frauchen steht hier und ist in Tränen aufgelöst, sie sucht ihn schon seit gestern Mittag. Es muss der Hund sein, der bei dir ist, die Beschreibung passt haargenau auf ihn. Kann Frau Ewersen zu dir kommen und sehen, ob es ihr Hund ist?“

„Ja sicher kann sie das, wir sind zu Hause, sie soll gleich kommen.“

Er legte den Hörer auf und war irgendwie etwas traurig, bald würde Benni nicht mehr da sein, er würde ihn vermissen.

Benedikt machte sich schnell etwas frisch und zog sich seine Kleidung an, ging runter in die Küche und kochte Kaffee. Frau Ewersen würde sicher auch eine Tasse Kaffee trinken.

Benni legte sich derweil unter den Küchentisch, da läutete es auch schon an der Haustür. Beide gingen zur Tür, Benedikt öffnete diese und sah sich einer Frau gegenüber, die sein Alter haben dürfte. Man sah, dass sie geweint hatte. Bevor er sich vorstellen konnte, sprang Benni an dieser Frau hoch, winselte und leckte ihr über das Gesicht, die Frau umarmte den Hund, drückte ihn an sich und ließ ihren Tränen freien Lauf, Freudentränen, wie man sah.

„Ach mein geliebter Robby, dass ich dich wieder habe, ich war ja so verzweifelt. Jetzt läufst du mir aber nicht mehr davon.“

„Entschuldigen Sie bitte“, sagte die Frau und sah zu Benedikt, ich habe mich noch gar nicht vorgestellt. Mein Name ist Helga Ewersen, ich bin auf Urlaub hier mit meinem Hund.“ Sie reichte ihm die Hand und auch Benedikt stellte sich ihr vor.

„Kommen sie doch bitte auf eine Tasse Kaffee herein“, sagte er zu ihr und Helga Ewersen folgte ihm in die Küche, beide wurden von einem freudig hin- und herlaufenden Benni, ach nein, Robby, begleitet.

„Robby also heißt er“, sagte Benedikt, „ich hatte ihn Benni getauft, weil ich vor vielen Jahren mal einen Benni hatte. Wissen sie, dass er mir fehlen wird, ich habe mich in diesen paar Stunden an ihn gewöhnt. Wie ist er ihnen denn abhanden gekommen?“

Helga Ewersen erzählte ihm, dass sie am Vortag in den Dünen unterwegs war mit Robby, er dann einem anderen Hund gefolgt war, so hatten sie sich aus den Augen verloren. „Es war eine schöne Hundedame, die wohl hitzig war, ich konnte Robby nicht mehr halten. Stundenlang habe ich nach ihm gesucht, bis spät in die Nacht. Gleich heute Morgen suchte ich weiter, da fiel mir dann ein, dass ich ihn vermisst melden könnte. Auf dem Weg zur Polizei kam ich am Tourismusbüro vorbei und schaute dort zuerst rein. Ja, so kam ich dann hierher.“

Benedikt gefiel diese Frau, sie war sehr sympathisch, hatte eine offene Art zu reden, ein fröhliches Lächeln in ihren Augen und sah auch noch gut aus.

Sie plauderten lange, beide hatten Zeit. Im Laufe des Gespräches stellte sich heraus, dass Frau Ewersen eine waschechte Amrumerin war. Sie war vor Jahren in die Landesmitte von Deutschland gezogen, machte nun auf Amrum Sommerurlaub und suchte während dieses Urlaubs ein kleines Haus für sich und Robby, denn sie wollte wieder auf Amrum leben. Sie war seit zwei Jahren verwitwet, es zog sie in die Heimat zurück.

Sie hatte auch bereits ein kleines Haus gefunden, ganz in der Nähe von Benedikt, wie sich herausstellte. Der Kauf sollte heute abgewickelt werden.

„Dann kann ich den Umzug organisieren und werde bereits in spätestens 3 Monaten hier wieder ansässig werden“, sagte Helga Ewersen zu Benedikt.

„Das freut mich sehr“, sagte dieser, „dann kann ich Benni, ähm… Robby natürlich, immer sehen und muss ihn nicht vermissen. Außerdem kann ich mir sehr gut vorstellen, dass wir alle drei Freundschaft schließen.“

Frau Ewersen sah Benedikt mit einem Lächeln an und stimmte ihm zu. „Das werden wir mit Sicherheit. Soll ich ihnen etwas sagen? Ich freue mich schon heute darauf, nun kann ich den Umzug gar nicht mehr erwarten.“

Es ging gegen Mittag, Frau Ewersen musste zum Termin, um den Hauskauf perfekt zu machen, so verabschiedete sie sich von Benedikt, aber nicht, ohne ihm noch einmal ganz herzlich für die liebe Aufnahme von Robby zu danken. Sie reichte ihm die Hand mit den Worten: „auf ein baldiges Wiedersehen und eine lange Freundschaft.“ Dann nahm sie Benedikt in den Arm und drückte ihn ganz herzlich.

„Was für eine tolle Frau“, dachte sich dieser. „Auch ich freue mich sehr, dass wir bald Nachbarn werden. Ich habe das Empfinden, dass wir bereits heute eine tief gehende und wertvolle Freundschaft gegründet haben.“

So gingen nun Frau Ewersen und Robby ihres Weges, sie gingen leichten Schrittes, denn irgendwie wussten alle drei, dass sie sich bald wieder sehen würden.

 
   

Dori und Stefan

 

Dori, die richtig Dorothea heißt, aber von allen nur Dori genannt wird, ist eine Frau von 55 Jahren, seit 4 Jahren verwitwet, sie lebt alleine. Ihre Ehe ist kinderlos geblieben, was aber nie ein Problem für sie darstellte, Kinder mussten für Dori nicht wirklich sein.

Nach dem Tod ihres Mannes hat sie lange Zeit gebraucht, sich nervlich zu erholen, da er etliche Jahre krank war und sie eigentlich immer für ihn da sein musste. Nicht dass er sich nicht mehr selbst helfen konnte, aber er wollte sie immer um sich haben und das war sehr anstrengend. Dori ist halbtags berufstätig und das empfand sie immer als sehr hilfreich, konnte sie doch wenigstens in diesen Stunden all die Probleme vergessen, die sie ständig zu Hause vereinnahmten.

So blieb sie nach dem Tod ihres Ehemannes alleine in ihrem kleinen Haus, übt ihren Beruf aus und versucht, nach und nach wieder ein aktives Leben zu führen.

Neben ihrem Beruf hat sie verschiedene Hobbys, die Zeit wird ihr also nie lang.

An einen anderen Mann dachte sie zwar ab und zu schon - daran, dass es vielleicht doch schön wäre, wieder zu zweit durch das Leben zu gehen. Schließlich ist sie erst 55 und das ist heutzutage kein Alter mehr, mit 55 steht man mitten im Leben.

Den Gedanken schiebt sie dann immer wieder beiseite, traut sich nicht so recht, sich näher damit zu beschäftigen. Im Internet hat sie schon verschiedentlich in diesen Partnerseiten gesucht, gibt aber jedes Mal schnell wieder auf.

Nun steht eine Kur an, denn ihre Bandscheiben lassen ihr in den letzten Monaten gar keine Ruhe mehr. Dori wollte erst gar nicht so recht, denn sie dachte an ihren Job, sie ist nie krank gewesen, hat nie länger als ein paar Tage wegen Erkältung gefehlt. Es fiel ihr deswegen auch nicht leicht, aber schließlich entschied sie sich doch für die Kur und heute nun soll es los gehen.

Der Koffer ist gepackt und im Auto verstaut, die Nachbarin, welche auch ihre beste Freundin ist, hat die letzten Instruktionen erhalten, sie will auf das Haus achtgeben, während Dori nicht anwesend ist.

Noch ein letzter Rundgang durch alle Zimmer, dann schließt sie die Eingangstür ab, gibt einen tiefen Seufzer von sich, so als möchte sie die Last von Jahren ablegen. Sie setzt sich in ihr Auto und fährt los. Das Autoradio spielt laut, aber gerade so will sie es heute haben, irgendwie ist ihr so fröhlich zumute, es ist eine Leichtigkeit in ihr, die sie schon lange vermisst und eigentlich schon nicht mehr erhofft hat. Sie singt die Lieder mit, die aus dem Autoradio erklingen, aus voller Kehle. Ein Autofahrer auf der Parallelstraße sieht sie und lacht sie an. Sicher fragt er sich, mit wem sie wohl redet, so ganz alleine in ihrem Auto, oder zweifelt er gar an ihrem Verstand? Es ist ihr egal, heute kann sie nichts beeinflussen, ihre Stimmung steigt und steigt.

Nach gut 3 Std. kommt sie in dem Kurort an, findet auch gleich das Kurzentrum, welches ihr auf Anhieb gefällt. Auch mit ihrem Zimmer ist sie sofort vertraut und fühlt sich wohl.

Nachdem sie ihren Koffer ausgepackt und alles in dem Schrank und der Kommode verstaut hat, begibt sie sich zu einem ersten Erkundungsgang in die nähere Umgebung. Ein wunderschöner Kurpark hat es ihr sofort angetan, denn es blüht und grünt sehr üppig dort und die vielen Bänke laden zum Verweilen ein.

An einem kleinen See findet sie schließlich eine Bank direkt neben einem großen, blühenden und wunderbar duftenden Holunderbusch, dort lässt sie sich nieder und schaut den Enten zu, die auf dem kleinen See schwimmen und nach Futter tauchen. Es ist Frühling und die Farbenvielfalt der mit wunderschönen Frühlingsblumen angelegten Beete stimmen Dori nur noch umso fröhlicher. Es ist lange her, dass sie sich so frei und entspannt gefühlt hat. Ein herrliches Gefühl, sie könnte die Welt umarmen.

Eine Weile noch genießt sie die Sonne auf dieser Bank, lauscht der Natur und auch den Menschen, die vorüber spazieren und ebenfalls diese warme Frühlingsluft genießen.

Dann ist es an der Zeit, zurück zu gehen, denn die Abendessenszeit naht. Sie will sich noch etwas frisch machen und etwas Schickes anziehen.

Punkt 18:30 Uhr findet sich Dori im Essenssaal ein, ihr wird von einem freundlichen jungen Mann der Tisch zugeteilt, den sie für diese 3 Wochen mit anderen Kurgästen teilen soll.

Noch sitzt niemand an dem Tisch, sie setzt sich auf einen der 4 Stühle und blickt sich in dem großen Saal um, der bereits sehr gut besucht ist, entsprechend laut ist es auch.

„Entschuldigen sie bitte, darf ich mich zu ihnen setzen?“ fragt eine freundliche Männerstimme. „Mir wurde ein Platz an diesem Tisch zugeteilt und ich freue mich, Ihre Gesellschaft beanspruchen zu dürfen“ sagt der Mann und reicht ihr die Hand.

„Mein Name ist Heil, Stefan Heil und wenn es ihnen recht ist, dann nennen sie mich einfach Stefan.“

Stefan Heil, dieser Name sagt Dori etwas und sie sieht ihn nun direkt an – da sieht sie ein Fragen in seinen Augen und gleich leuchten diese sie an.

„Dori? Dori, bist du es wirklich?“ „Das gibt es doch nicht, doch, du bist es,“ sagt Stefan und auch Dori erkennt ihn sofort, er hat sich nicht viel verändert, ist nur älter geworden, aber immer noch sieht er sehr gut aus.

„Ja Stefan, ich bin es, aber wo kommst du her, was machst du hier? Ach, blöde Frage, natürlich kurst du auch hier, entschuldige bitte, aber ich bin etwas durcheinander,  nie hätte ich mit einer solchen Begegnung gerechnet“ erwidert Dori nun.

Stefan setzt sich neben Dori und sie sehen sich eine Weile an, müssen dann beide lachen und Stefan sagt zu ihr, dass sie noch so gut aussehen würde, wie früher. „Du bist reifer geworden, das steht dir sehr gut,“ sagt er zu ihr und Dori spürt, wie sie langsam, aber intensiv errötet.

„Stefan, du machst mich ganz verlegen, entschuldige bitte, ich weiß nicht, wann ich das letzte Mal errötete“ sagt sie zu ihm und Stefan entgegnet, dass ihm das gefallen würde, es würde ihr gut stehen und auch für sie sprechen.

Langsam löst sich die Spannung bei beiden und sie fragen sich nun, wie lange sie sich wohl nicht mehr gesehen haben.

„Ich war 24 Jahre verheiratet und bin schon seit 4 Jahren verwitwet, es muss also um die 30 Jahre her sein, seit wir uns aus den Augen verloren haben, denn mit meinem verstorbenen Ehemann war ich schon eine Weile zusammen, bevor wir heirateten“ sagt Dori. Stefan meint, das könne wohl so sein, obwohl er sich gerade im Augenblick nicht vorstellen könne, dass das so lange her ist.

„Du wirkst mir so vertraut“ sagt er zu Dori, die daraufhin erneut errötet.

„Du hast recht“, sagt er zu ihr, „ich war auch lange verheiratet, bin aber seit 7 Jahren geschieden. Es tut mir leid, dass dein Mann gestorben ist“ meint er, obwohl er das tief in seinem Innern als für sich selbst positiv empfindet, ist Dori dann doch nicht gebunden. Er ertappt sich bei dem Gedanken, dass es doch schön wäre, würden sie beide wieder …- aber dann verdrängt er diesen Gedanken auch gleich.

„Seit wann bist du hier?“ fragt er sie.

„Ich bin heute erst angekommen – und du?“

„Ich auch, ist meine erste Mahlzeit hier. Das ist aber mehr als Zufall,“ meint er und Dori stimmt ihm zu.

„Lass uns nach dem Abendessen noch etwas zusammen sitzen und dieses Wiedersehen gebührend feiern. Ich lade dich ein und würde mich sehr freuen, würdest du mir diese Ehre erweisen!“

„Gerne“ – sagt Dori, die seine Gesellschaft genießt, zumal er ihr immer wieder irgendwie zu verstehen gibt, dass sie ihm noch genauso gut gefällt, wie damals. Sie waren in jungen Jahren ein Liebespaar gewesen, bis sie ihren späteren Ehemann kennen lernte und wegen ihm Stefan verließ. Stefan hatte das lange nicht verkraftet, wie ihr über ehemalige Freunde des Öfteren zu Ohren kam.

Sie hatten sich dann ganz aus den Augen verloren, da sie in eine andere Umgebung gezogen war und nun also hat das Schicksal sie noch einmal zusammen geführt.

Dori überkommt ein über das andere Mal ein warmer, wohliger Schauer, es ist die Vertrautheit von damals, die sie wieder in sich fühlt. Auch sein Talent, einem ein behütetes und beschütztes Gefühl zu geben, hat er immer noch, das nimmt sie sehr angenehm auf und sonnt sich darin. Ähnliches hat sie sehr lange nicht mehr gespürt, auch die letzten Ehejahre waren ohne jegliche Gefühle dieser Art gewesen.

Sie beenden das Abendessen, Stefan steht auf, hilft ihr, ganz Gentleman, beim Aufstehen und begleitet sie hinaus in das Foyer. Dort verabschieden sie sich, aber nur, um auf ihre Zimmer zu gehen, um sich etwas über zu ziehen. Schließlich wollen sie das Kurhaus verlassen und sich in der Stadt eine gemütliche Kneipe suchen.

Doris' Hände zittern ein wenig, als sie ihr Zimmer aufschließt. Sie ist aufgeregt wie ein junger Teenager beim ersten Rendezvous – und das in ihrem Alter, wie sie für sich denkt

Im Zimmer angekommen, setzt sie sich erst mal auf das kleine Sofa, atmet ganz tief durch und lässt die letzte Stunde vor ihrem geistigen Auge Revue passieren. Noch immer kann sie es nicht glauben, kann es einen solchen Zufall wirklich geben, träumt sie vielleicht? Nein, es ist kein Traum – und deswegen muss sie sich jetzt auch beeilen, denn Stefan wartet auf sie. Sicher ist er längst fertig und steht bereits im Foyer.

Sie geht noch schnell in das Badezimmer, macht sich ein wenig zurecht, zieht sich dann einen leichten Blazer über und geht hinunter zu ihm.

Stefan steht tatsächlich schon da und als er sie sieht, eilt er auf sie zu und dabei blitzen seine wunderschönen dunklen Augen wie früher, er wirkt sehr jugendlich in diesem Moment.

Er öffnet seine Arme, nimmt sie ganz zart an den Schultern, drückt ihr einen leichten Kuss auf die Stirn, nimmt dann ihre Hand und zieht sie mit sich.

Dori weiß nicht, wie ihr geschieht, sie lässt ihn einfach gewähren und fühlt sich gut, mit ihrer Hand in der seinen.

So gehen sie aus dem Kurhaus, ein Stück durch den wunderschön beleuchteten Kurpark und finden sich in der kleinen Fußgängerzone der Kurstadt wieder. Auf der Suche nach einer gemütlichen Kneipe erzählen sie sich von ihren vergangenen Jahren.

Bald haben sie ein kleines und ganz gemütliches Restaurant gefunden, lassen sich dort in der hintersten Ecke nieder, weil an diesem Tisch eine kleine Bank steht, auf der sie sich nebeneinander setzen können. Wie zwei Verliebte, denkt Dori für sich. Gleich hat Stefan auch wieder ihre Hand ergriffen, Dori lässt es geschehen.

Sie haben sich sehr viel zu erzählen, denn 30 Jahre sind lang und viel ist in diesen Jahren geschehen. Aber irgendwie verblasst das alles und wichtig ist letztendlich nur noch ihr Wiedersehen.

Es ist beinahe so, als wären sie nie getrennt gewesen, als lägen all diese vielen Jahre nicht zwischen ihnen. Selbst diese Heiterkeit, die früher immer zwischen ihnen bestand, ist wieder da, Dori fühlt sich einfach nur gut. Stefan scheint es genauso zu gehen, denn er redet und lacht, hält dabei immer ihre Hand, streichelt sie gar ab und zu.

So vergehen die Stunden wie im Fluge, bald ist es Mitternacht. Dori ist leicht beschwipst von dem Sekt, den sie sich zur Feier ihres Wiedersehens gegönnt haben. Sie ist beflügelt, fühlt sich leicht wie eine Feder. Ihre Wangen sind gerötet von dem Sekt, von dem Lachen und dem Glück, welches über ihnen hängt wie Geigen am Firmament. So glücklich ist sie schon unendlich viele Jahre nicht mehr gewesen.

Nun  ist es doch Zeit, aufzubrechen, denn morgen früh steht der erste Arztbesuch im Kurhaus an, Dori ist gleich für 8:00 Uhr bestellt und bis dahin ist es gar nicht mehr so lange hin.

Also brechen sie auf, schweren Herzens, aber sie haben beide das Gefühl, dass dies erst der Anfang einer schönen Zeit sein wird.

Stefan hält sie wieder an der Hand und als sie das Restaurant verlassen, nimmt er sie um die Taille und sie gehen leichten Schrittes ihren Weg.

Im Kurhaus angekommen begleitet er sie bis vor ihre Zimmertür und da stehen sie nun, keiner weiß so recht, was er tun oder sagen sollt. Er hält ihre Hände in den seinen, schaut sie an und beide sind sie leicht verlegen.

Stefan ergreift als erster das Wort, dankt Dori für diesen wunderschönen Abend und sagt ihr auch, dass er sich schon auf den Morgen freut, auf das erste gemeinsame Frühstück seit vielen Jahren. Diesen Satz beendet er mit einem Augenzwinkern und bringt Dori damit zum Lachen.

Dieses Lachen, wie hat er es immer an ihr geliebt, dabei strahlen ihre Augen  wie Diamanten, funkeln in vielen Farben, was er sich nie erklären konnte, weil ihre Augen doch grau-grün sind. Woher also diese Farben, wenn Dori lacht? Damals hat sie es Stefan so erklärt, dass es die Farben ihrer Seele seien und ihre Seele sei bunt wie der Farbkasten eines Malers.

„Deine Seele ist immer noch so bunt wie der Farbkasten eines Malers,“ sagt er zu ihr, „deine Augen funkeln wie früher, sie funkeln in allen Farben dieser Welt.“

Jetzt fällt auch Dori dieser Satz wieder ein, den sie ihm damals so oft sagte, eine Ewigkeit hat sie daran nicht mehr gedacht. Eine Ewigkeit ist ihr auch nicht mehr so leicht zumute gewesen. Mit einem Male spürt sie, wie lange sie doch Glück vermisst, wie lange sie einsam ist, wie lange sie keine Wärme und Zärtlichkeit eines Mannes mehr gespürt hat.

Plötzlich hat sie ein wohliges Gefühl in der Magengegend. Die Schmetterlinge sind da, diese Schmetterlinge, die jeder kennt, die jeder liebt, weil sie so viel versprechend sind, weil sie Sehnsüchte wiedergeben, die man tief im Innern hegt. Sie flattern wie wild, so dass sie sich unwillkürlich mit der Hand den Magen drückt und ein Lächeln zu Stefan schickt.

Dieser nimmt sie einfach in die Arme und küsst sie auf den Mund, ein sehr zarter Kuss, voller Wärme und Sehnsucht, aber nicht fordernd. Noch einen Moment halten sie sich an den Händen, schauen sich an, dann dreht Dori sich um und schließt die Tür ihres Zimmers auf. Sie dreht sich noch einmal zu Stefan und wünscht ihm eine gute Nacht, bevor sie in ihr Zimmer geht und die Türe leise hinter sich schließt. Stefan will an diesem Abend auch nicht mehr, das hat sie gespürt und sehr positiv registriert, aber das war schon damals Stefans Art, er war immer sehr rücksichtsvoll und zärtlich gewesen.

Dori bleibt noch eine ganze Weile angelehnt an die Zimmertür stehen, sie will ihm noch ein wenig nahe sein, will noch einen Moment den Kuss genießen, diese Wärme festhalten, die er ihr geschenkt hat, ihre Hand in der seinen spüren, seine Arme spüren, die sich um sie legten – sie fühlt sich rundum glücklich. Das hätte sie sich nicht träumen lassen, als sie zu Hause weg fuhr.

Sie schläft noch lange nicht ein, ist zu aufgewühlt, ihre Gedanken sind bei Stefan. Der wiederum in seinem Bett liegt und an Dori denkt, der ihren Körper gerne neben sich spüren würde, der aber auch weiß, dass alles was gedeihen soll, seine Zeit braucht.

So schlafen schließlich beide erwartungsvoll in den neuen Tag.

Zum Glück hat Dori den Weckalarm ihres Handys eingestellt, sonst hätte sie verschlafen. Der Weckton holt sie aus tiefem Schlaf und sie braucht ein paar Sekunden, um zu realisieren, wo sie sich befindet.  Dann fällt ihr Stefan ein und der wunderschöne Abend, den sie mit ihm verbracht hat. Ein neues Gefühl schleicht sich durch ihren Körper und gleich sind auch die Schmetterlinge wieder da.

Ach wie schön, so zu erwachen, denkt sie sich und ein wohliges Glücksgefühl legt sich auf ihr Herz, öffnet ihre Seele weit.

Sie springt aus dem Bett, denn es wird Zeit, den Arzttermin darf sie nicht versäumen.

Gestern Abend haben sie und Stefan gar nicht über den heutigen Tag gesprochen, sich nicht verabredet, aber sie weiß, dass sie sich relativ schnell finden werden, denn auch er ist gestern erst angekommen und hat sicher die gleichen Anlaufpunkte heute.

So ist es dann auch, sie treffen sich bereits im Bereich der verschiedenen Wartezimmer und wieder errötet Dori, diesmal nur ganz leicht.

"Guten Morgen Dori" sagt Stefan zu ihr, "hast du gut geschlafen?"

"Oh ja, so gut wie schon lange nicht mehr - und du?" "Ach liebe Dori, ich habe geschlafen wie ein junger Gott und als ich heute Morgen aufwachte, galt mein erster Gedanke dir."

Wie wild hüpfen und tanzen nun die Schmetterlinge in Doris’ Magengegend. Sein erster Gedanke am Morgen galt ihr, wie schön, das zu hören. Ihr erging es im Grunde ja nicht anders, aber das will sie ihm noch nicht sagen, sie ist immer etwas zurückhaltender.

Nach einem kurzen Eingangscheck bei dem Arzt treffen sie sich am Frühstückstisch wieder, ihr erstes gemeinsames Frühstück seit einer Ewigkeit.

"Dori, ich bin so glücklich, dass wir uns wieder gefunden haben" sagt Stefan zu ihr, "lass uns die Freizeit hier gemeinsam verbringen, lass uns diese Zeit nutzen uns wieder kennen zu lernen, denn ich sehe es als eine Fügung an, dass wir beide zur gleichen Zeit hier sind, das kann kein Zufall sein!"

Stefan ist ernst geworden bei diesen Worten, sieht ihr fest in die Augen, so dass Dori spürt, er will mehr von ihr. Ihr Herz schlägt schneller und sie muss sich zusammen nehmen, um ihm nicht einfach um den Hals zu fallen. Was spricht dagegen? denkt sie sich. Wir sind beide frei und alleine und wir kennen uns, würden uns also nicht auf irgendein Abenteuer einlassen, aber sie übt doch noch etwas vorsichtige Zurückhaltung Stefan gegenüber.

"Ja Stefan, du hast recht, selbst wenn es ein Zufall ist, dann ist es ein wunderschöner Zufall. Ich freue mich auf diese drei Wochen und wir werden sicher viele gemeinsame Stunden hier verbringen."

Nach dem Frühstück ist der Vormittag verplant, jeder muss seines Weges gehen, aber der Nachmittag steht ihnen zur freien Verfügung und den nutzen sie ausgiebig.

Das Wetter ist herrlich, die Sonne scheint warm und taucht den Kurpark in ein wunderschönes Licht. Sie gehen spazieren, Hand in Hand und lassen sich auf der Bank an dem kleinen See nieder, auf der Dori gestern noch alleine saß. Eine Weile sitzen sie schweigend nebeneinander, genießen die Nähe des Anderen, die warmen Sonnenstrahlen und das Leben an sich.

Dori fühlt diese Vertrautheit wieder, sie sind sich nicht fremd, wenn auch viele Jahre dazwischen liegen. Fast scheint es, als gäbe es diese Jahre ohne den Anderen nicht, als hätten sie sich immer schon gehabt, als wären sie sich ohne Unterbrechung nahe gewesen. Stefan strahlt so viel Ruhe auf sie aus, sie fühlt sich beschützt und geborgen in seiner Nähe. Vorsichtig legt sie ihren Kopf gegen seine Schulter, schließt ihre Augen und genießt den Augenblick. Da fühlt sie seine warme Hand auf ihrer Wange, er streichelt sie ganz sacht.

Wie hat sie eine solche Wärme vermisst.

Sie verbringen den ganzen Nachmittag zusammen, treffen sich dann wieder zum Abendessen an ihrem Tisch. Diesmal sind sie zu dritt, ein junger Mann gesellt sich zu ihnen, der heute eingetroffen ist, wie er ihnen erzählt. Nun wollen sie zu den Essenszeiten nicht mehr so frei reden, aber es bleibt ihnen genug Zeit in der sie alleine sind.

So vergehen die ersten Tage, vormittags ist jeder für sich mit verschiedenen Anwendungen beschäftigt, aber fast alle Nachmittage haben sie frei und können gemeinsam etwas unternehmen. Sie nutzen die Zeit sehr intensiv und kommen sich immer näher, umarmen sich oft und tauschen innige Küsse aus.

Am Samstag dann hat Stefan die Idee, dass sie in der Stadt in ein Tanzcafé gehen könnten, er sei zwar kein guter Tänzer, das wisse sie ja, aber es sei ihm heute danach. Dori ist sofort begeistert, auch sie ist keine große Tänzerin, aber die Vorstellung, in seinen Armen zu schweben ist einfach traumhaft.

So gehen sie nach dem Essen in die Stadt, finden auch gleich das Tanzcafé, von dem andere Kurgäste schon geschwärmt haben - tatsächlich, es ist sehr schön hergerichtet im Innern. Gemütliche, lauschige Ecken gibt es dort, das Licht ist schummrig, aber es macht die Atmosphäre warm und erzeugt eine ganz besondere Stimmung. Sie sehen auch gleich, dass es fast nur von Kurgästen besucht ist, man kennt sich vom Sehen.

Stefan hat schon einen Tisch ausfindig gemacht, nimmt galant ihre Hand und begleitet sie zu ihrem Platz. Er rückt seinen Stuhl näher zu dem ihren und nimmt auch Platz, alles, ohne ihre Hand loszulassen. Sie verfolgt sein Tun mit liebevollen Augen.

Er bestellt Getränke und gleich danach begeben sie sich auf die Tanzfläche, Stefan nimmt Dori in die Arme und sie bewegen sich zu der Musik. Beide können nicht wirklich gut tanzen, aber das ist egal. Sie liegen sich in den Armen, die Musik tut ihr übriges und so schweben sie dahin, ihre Herzen kommen sich noch näher. Jeder spürt die Nähe des Anderen, sie können sich nicht fest genug halten. Sie lassen keinen Tanz aus, egal welche Musikrichtung gespielt wird, am meisten natürlich genießen sie die langsamen Lieder.

Irgendwann flüstert Stefan ihr ins Ohr: "komm, lass uns diesen Abend mit Champagner beenden." Er führt sie zurück zu ihrem Tisch, an dem sie gar nicht lange gesessen haben, bestellt Champagner, mit dem sie dann auf ihr Glück trinken. So etwas Prickelndes hat Dori noch nie getrunken, er ist viel besser als Sekt, vielleicht ist es auch der besondere Augenblick, der jedes Getränk zu Champagner gemacht hätte.

Gemeinsam leeren sie eine ganze Flasche. Dori ist beschwipst, sie fühlt sich wie eine Feder so leicht und genauso tanzt sie auch die nächsten Tänze mit Stefan. Beide schweben im siebten Himmel, Champagner, Musik, tanzen - all das erzeugt eine Euphorie in beiden, aber sie wissen auch, dass es tiefere Gefühle sind, die sie spüren.

Sie bleiben bis zum Ende der Tanzveranstaltung, der letzte Tanz ist alleine für sie gedacht. Stefan hat die Musiker darum gebeten, ihr Lieblingslied zu spielen, welches sie früher so gerne gemeinsam hörten. Sie sind das letzte Paar auf der Tanzfläche und verschmelzen ineinander.

"Das war ein Abend wie ein Traum" sagt Dori zu Stefan auf dem Rückweg - "ich danke dir für diese wunderschönen Stunden!"

"Auch für mich war es ein Traumabend" sagt Stefan - "und wenn du willst, dann werden wir noch viele solcher Abende haben."

Dori ist nur noch glücklich, sie will auf dem Weg zurück zum Kurhaus nicht mehr reden, irgendwie hat sie Angst, mit vielen Worten alles zu zerstören.

Stefan begleitet sie wieder bis zu ihrer Zimmertür, wie die ganzen Abende zuvor auch. Diesmal jedoch ist es anders. Er nimmt sie zwar auch in den Arm, küsst sie innig, aber es liegt ein anderes Gefühl in der Luft. Sie spürt sein Verlangen nach mehr, nach ihr, nach ihrem Körper - und auch Dori will mehr an diesem Abend. Sie will nicht alleine in ihr Zimmer gehen. Ohne Worte spüren beide das Verlangen des Anderen, spüren, dass sie sich nicht trennen wollen. Dori schließt die Zimmertür auf, ein kurzer Blick zu Stefan genügt und sie gehen wie selbstverständlich in ihr Zimmer, schließen die Tür hinter sich ab.

Vor einem solchen Augenblick hatte Dori Angst, wenn sie sich manchmal in den letzten Jahren eine ähnliche Situation ausmalte, aber mit Stefan ist alles ganz anders. Alles ist so vertraut wie damals, es gibt kein ängstliches Zittern bei ihr, keine stumme Verlegenheit, keine fragenden Blicke. Er nimmt sie einfach in die Arme, bedeckt ihr Gesicht mit Küssen.

Ihr Verlangen nach ihm wird immer stärker, als sie das Fordern von ihm spürt und auch in seinen Augen sieht. Dori fängt an, Stefan auszuziehen, er lässt es geschehen. Sie wechseln sich ab, Kleidungsstück um Kleidungsstück fällt auf den Boden und bald sind sie beide nackt, spüren endlich die warme Haut des Anderen. Was dann folgt, ist einfach Glück pur, ist voller inniger Liebe, ist ein Akt der Wärme, der Geborgenheit. Die Ausschüttung der Glückshormone beschert beiden eine Explosion im siebten Himmel.

Danach liegen sie sich in den Armen, wollen sich nicht mehr loslassen und schlafen schließlich gemeinsam in den neuen Tag.

Durch einen zärtlichen Kuss auf den Mund wird Dori am nächsten Morgen geweckt, Stefan liegt an ihrer Seite und schaut sie verliebt an. Ein Lächeln überzieht sein Gesicht, dann werden seine Gesichtszüge ernst. „Liebste Dori, ich liebe dich seit ich dich kenne, ich habe nie verstanden, warum du mich damals verlassen hast und ich konnte nie aufhören, dich zu lieben. Ich habe eine Tochter, die schon verheiratet ist, sie hat den Namen Dorothea erhalten, in Erinnerung an dich, an unsere Liebe. Du hast mich in meinem Herzen begleitet, all die Jahre und jetzt, da ich dich wieder gefunden habe, möchte ich dich nie mehr gehen lassen.

Ich will auch nicht mehr warten, will keine Stunde mehr ohne dich sein und deswegen frage ich dich – Dori, willst du meine Frau werden?“

Dori ist sprachlos, wenn sie mit allem gerechnet hat, aber nicht mit einem Heiratsantrag, nicht nach diesen paar Tagen. Sie spürt aber auch, dass es tiefe Liebe ist, auf seiner Seite, sowie auch bei ihr – warum sollen sie dann nicht das Glück beim Schopfe packen, auf was sollen sie noch warten?

Ihr Herz schlägt schnell, sie spürt nur noch Glück, Tränen treten ihr in die Augen, als sie ihm die einfache Antwort gibt:

„Ja Stefan, ich will!“